China: Modernisierung bedeutet nicht Verwestlichung - Xinhua | German.news.cn

China: Modernisierung bedeutet nicht Verwestlichung

2023-07-08 08:56:57| German.news.cn
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Von Beat Schneider

BERLIN, 7. Juli (Xinhua) -- In China findet gegenwärtig eine wichtige politische Diskussion über die Modernisierung statt. Es stehen zwei Arten von Modernisierung zur Debatte, die westliche und diejenige mit chinesischen Charakteristika.

Mit westlicher Modernisierung assoziiert man gemeinhin den in Europa stattfindenden kulturellen Umbruch: die sogenannte Moderne. Diese wurde durch einen komplexen Prozess von Aufklärung und Säkularisierung, Wissenschaft und Technologie, beziehungsweise durch die bürgerlich-kapitalistische Revolution eingeleitet. Moderne gilt mithin als Inbegriff für Emanzipation, Fortschritt und Modernisierung der Gesellschaft. Die Begriffe Modernisierung und Moderne haben längst normativen und universellen Anspruchscharakter erlangt. Sie haben den Weg in die Köpfe rund um den Planeten gefunden.

Auch wenn Fortschritt als ein universeller Modernisierungsprozess beschrieben wird, so entspricht dies nichtsdestotrotz einer beschränkten, eurozentristischen und parteiischen Sichtweise. Diese versteht die Weltgeschichte als abendländisch-westliche Geschichte, als Prozess der Aneignung der außereuropäischen Welt, gewissermaßen als Einbahnstraße der Verwestlichung der übrigen Welt, als Export der überlegenen christlich-abendländischen und westlich-kapitalistischen Zivilisation: Sei es in Form von Kreuzzügen und Missionierung, sei es in Form von Kolonisierung und wahlweise auch von Versklavung. Resultat war in jedem Fall die Unterordnung der nicht-weißen Zivilisationen.

Ergebnis ist im 19. Jahrhundert eine Aufteilung der Welt in zwei Teile: Hier die reiche Welt der Minderheit der Privilegierten des globalen Nordens, dort die arme Welt der Mehrheit der Kolonisierten und Unterprivilegierten des globalen Südens. Die Zweiteilung war lange Zeit das unhinterfragte, weil wirtschaftlich ertragreiche und kulturell, religiös und philosophisch gut abgesicherte Geschäftsmodell Europas. Bekanntlich ein folgenschweres, beziehungsweise verheerendes Modell. Dafür haben vor allem die kolonisierten Völker und dann im 20. Jahrhundert die unzähligen Opfer der großen, vom Westen angezettelten Kriege ihren hohen Blutzoll gezahlt. Europa konnte sich bürgerliche Demokratie und einen Katalog von Freiheitsrechten leisten: Liberalismus und individuelle Menschenrechte neben Kolonialismus und Rassismus. Noch heute versucht eine kleine kapitalistische Oligarchie von Privilegierten in den G7-Staaten (USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Japan) den Rest der Weltbevölkerung zu dominieren, nach Bedarf mit Nötigung und Gewalt. Sie kann sich dabei in den westlichen Gesellschaften auf die Komplizenschaft anderer, sozusagen mitprivilegierter Schichten (Kleinbürgertum, privilegierte Lohnabhängige und Teile der Intelligenz) verlassen. So viel zu den historischen Tatsachen aus einem nicht-eurozentristischen Blickwinkel.

Die Modernisierung, beziehungsweise die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen und der kapitalistischen Revolution, blieben einer kleinen Minderheit von privilegierten Ländern vorbehalten. Für den großen Rest blieben sie ein unerfüllter Traum. Im 20. Jahrhundert gab es allerdings einen Wendepunkt. Zum ersten Mal wurden die kolonisierten Völker in den sogenannten Drittweltländern ermutigt, sich auf den Weg der antikolonialen Emanzipation zu begeben und nach den Früchten der Modernisierung zu greifen. Die russische Oktoberrevolution war für viele Länder das erste Fanal zu einem antikolonialen Befreiungsprozess, der vor allem in den Dezennien nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang kam. Er blieb allerdings meistens in der formalen Unabhängigkeit stecken und musste sich mit den harten neokolonialen Abhängigkeiten vom westlichen Imperialismus arrangieren.

Der Entkolonisierungsprozess kam vollständig zum Erliegen, nachdem sich die Welt in den 1990er Jahren in eine monopolare Weltordnung verwandelt hatte und die USA, die einzig übriggebliebene Weltmacht, sich wieder zu einer aggressiveren militarisierten kolonialistischen Außenpolitik ermutigt fühlten (Panama, Golfkriege, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Syrien usw.). Heute stellen wir fest, dass die unter US-Hegemonie stehende monopolare Weltordnung sich langsam ihrem Ende zuneigt. In der Zwischenzeit hat sich ökonomisch und politisch einiges getan. Mit China und den anderen großen Schwellenländern haben neue Akteure die geopolitische Bühne betreten. Der sogenannte Washington Consensus, das westliche Machtkartell mit seinen institutionellen Stützpfeilern, ist in Frage gestellt.

Chinas rasanter Aufstieg zu einer stark vernetzten wirtschaftlichen und politischen Weltmacht - ein Aufstieg, der in seinem Ausmaß von niemandem im Westen vorausgesehen wurde - und Chinas (Wieder-)Eintritt in die Weltgeschichte - nach einem fast zweihundertjährigen Unterbruch - bilden zu Beginn des 21. Jahrhunderts das neue Fanal zu einer Emanzipation der Völker des globalen Südens, die den Weg aus Armut und Bitternis nicht gefunden haben und sich mehrheitlich immer noch im Stadium der neokolonialen Ausbeutung befinden. Das neue China zeigt den Ländern des globalen Südens, dass erstmals wieder die Möglichkeit besteht, die Modernisierung auf den großen Teil der Weltbevölkerung auszudehnen und dass sich die Länder am Modernisierungsprozess selbst aktiv beteiligen können. Eine derartige Aussicht wäre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch völlig unvorstellbar gewesen.

Chinas Aufschwung hat dazu geführt, dass die geopolitischen Karten neu verteilt werden. Das Fundament dafür liegt zuerst einmal in Chinas erfolgreicher antikolonialer und sozialistischer Revolution, dann in seiner Größe und Stärke und in seiner jahrtausendealten Zivilisationsgeschichte und vor allem auch in seiner kampferprobten Partei. Dies alles bildet die Basis für seine Unabhängigkeit gegenüber der Hegemonie der USA, konkret für seine Unabhängigkeit gegenüber den von den USA geführten westlichen Bündnissystemen (NATO, die transatlantische und ihre südpazifische Erweiterung) und den wirtschaftlichen Machtinstrumenten (Weltbank, Welthandelsorganisation, Weltwährungsfonds usw.). China ist Autor und Architekt einer eigenen Modernisierung und hat dafür einen erstaunlichen Leistungsausweis vorgelegt. Es hat gezeigt, wie die absolute Armut von Hunderten von Millionen überwunden werden kann, wie Produktivkräfte in einem bisher unbekannten Ausmaß entwickelt werden können und wie eine reale Veränderung der Lebenssituation der breiten Bevölkerung erreicht werden kann. Chinas Modernisierung, beziehungsweise die Moderne made in China, ist ein beispielloser Vorgang. China ist es gelungen, die Modernisierung in eine neue Richtung zu lenken.

Worin bestehen nun die Charakteristika der chinesischen Modernisierung?

Chinas Modernisierung ist sicher zuerst einmal in seiner wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung begründet. China ist in vielen Bereichen die technologische Führungsmacht und wird höchstwahrscheinlich immer mehr den Takt der Innovation vorgeben. China ist daran, einen «effizienteren Weg» als den des Kapitalismus zu gehen und zugleich wirkungsvoller «Fairness in der Gesellschaft» zu erlangen.

Chinas Modernisierung ist aber mehr. Sie ist eine Modernisierung, in welcher der Staat eine aktive und sozialistische Rolle  spielt. Deshalb wird im Fall von China von einer «hybriden Modernität» gesprochen.

China demonstriert seit langem, dass es die Modernisierung auf einem friedlichen Entwicklungsweg erreichen will. China ist die einzige Macht, die ohne militärische Komponente zu einer Weltmacht geworden ist.

Chinas Modernisierung heißt auch atemberaubender Aufbau einer neuen ökologischen Zivilisation. Das Land ist längst weltweiter ökologischer Vorreiter.

Chinas Modernisierung besteht last but not least im Einbezug der eigenen Tradition, Philosophie und Kultur in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Die kulturelle Stärke ist ein Schlüsselelement. Das Sowohl-als-auch von wirtschaftlicher Dynamik und kultureller Identität macht die zivilisatorische Stärke der chinesischen Modernisierung aus. Weil China den Respekt für die eigene Kultur betont, ist sein Beispiel für Länder attraktiv, die ihren eigenen Weg gehen wollen, nachdem sie vom Westen kulturell missachtet und dafür wirtschaftlich umso mehr ausgebeutet worden sind. In diesen Kontext muss Chinas kategorische Ablehnung der «Verwestlichung» gestellt werden. China sagt von sich selbstbewusst, dass es «den Mythos» widerlege, dass Modernisierung «gleichbedeutend mit Verwestlichung» sei.

Was die chinesische Modernisierung heute der Welt verspricht, ist nicht imperialistische Ausgrenzung, Spaltung und Ausbeutung. Stattdessen schlägt sie mit dem größten Infrastrukturprojekt der Geschichte, der Belt-and-Road-Initiative, Inklusion vor. China arbeitet an einer Weltordnung, die auf gegenseitigem Nutzen der Völker basiert und welche die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme akzeptiert, was eine rationale Basis für eine multipolare Ordnung bildet. Die Völker des globalen Südens, welche mit China zusammen 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, haben erstmals die Möglichkeit zu wählen.

Anmerkung der Redaktion: Beat Schneider ist emeritierter Professor für Kultur- und Designgeschichte an der Hochschule der Künste Bern in der Schweiz.

Die in diesem Artikel dargestellten Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Positionen der Nachrichtenagentur Xinhua wider.

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