Die Gaotie macht’s möglich: Trend zum Pendeln in Chinas Metropolregionen
Von Hu Yue
Von einer Stadt zur anderen zum Arbeitsplatz pendeln? Was in Deutschland vielerorts gang und gäbe ist, war in China lange eine Seltenheit. Doch in den Metropolregionen im Reich der Mitte tut sich hier etwas. Langsam scheint ein Umdenken einzusetzen, was nicht zuletzt dem kontinuierlichen Ausbau des Netzes an Hochgeschwindigkeitsbahnen zu verdanken ist.
Berufspendler Guo pendelt unter der Woche mit der Hochgeschwindigkeitsbahn zum Arbeitsplatz. Die Fahrt mit der Gaotie ist damit fester Bestandteil seines Alltagslebens geworden.
Einer, der sich für ein Pendlerdasein entschieden hat, ist zum Beispiel Guo Xinyu aus Tianjin. Lange arbeitete der 41-Jährige in einem Zweigbetrieb des Energiekonzerns CHINA HUANENG in seiner Heimatstadt, bis er in die Konzernzentrale in Beijing versetzt wurde, wo er ins mittlere Management aufstieg. Doch ein Umzug in die Hauptstadt kam für Herrn Guo nicht in Frage, da seine Eltern und auch seine Tochter noch immer in der rund 120 Kilometer entfernten Metropole Tianjin leben. Guo pendelt deshalb unter der Woche mit der Hochgeschwindigkeitsbahn zum Arbeitsplatz. Die Fahrt mit der Gaotie ist fester Bestandteil seines Alltagslebens geworden.
Vergrößerung des Lebensradius
„Von Dienstreisen abgesehen, pendle ich wöchentlich vier- bis fünfmal zwischen Beijing und Tianjin. Das heißt, dass ich pro Woche höchstens einmal in Beijing übernachte“, erzählt uns der Familienvater. Während viele Eltern in China als Wanderarbeiter aus beruflichen Gründung die Trennung von ihren Kindern über lange Zeiträume in Kauf nehmen, hat sich Guo Xinyu anders entschieden. „Meine Tochter besucht derzeit die vierte Grundschulklasse und braucht in Sachen Lernen und Leben meine Unterstützung als Vater. Ich schätze meine Aufgabe der Kinderbetreuung zu Hause sehr. Schließlich ist ein Kind nur wenige Jahre völlig auf seine Eltern angewiesen. Diese Zeit möchte ich deshalb nicht versäumen.“ Worte, die Guos Verantwortungsbewusstsein als Familienvater spiegeln, auch wenn seine Entscheidung im Alltag für den 41-Jährigen viele Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Nicht nur, dass der Familienvater bei Wind und Wetter die 120 Kilometer zwischen den beiden nordchinesischen Metropolen zurücklegen muss, auch hat er für das Pendlerdasein tief in die Tasche zu greifen.
Wir treffen Herrn Guo gegen 18 Uhr am Beijinger Südbahnhof. Nur rund 30 Minuten dauere die Fahrt mit der Hochgeschwindigkeitsbahn, Züge verkehrten zudem im 10-Minuten-Takt, erklärt er. Ein Zweite-Klasse-Ticket koste 54,50 Yuan, rund 7,70 Euro also. „Im Vergleich zur Miete einer Wohnung in Beijing oder der Kreditrate für eine Eigentumswohnung ist die Benutzung des Verkehrsmittels also noch günstig“, sagt er.
Seit Februar 2015 bietet die Beijinger Eisenbahnbehörde auch Gaotie-Züge nach Mitternacht an. Auch sie sind gefragt und vor der Abfahrt sind die Plätze in der Regel gut belegt.
Auch die junge Tianjinerin Wang Xueying hat sich für ein Dasein als Pendlerin entschieden. Die Single-Frau arbeitet im Beijinger Zentrum. Früher hatte sie eine Wohnung im Beijinger Vorstadtbezirk Tongzhou gemietet, heute pendelt sie per Gaotie zwischen ihrer Heimatstadt Tianjin und dem Beijinger Arbeitsplatz. „Ich habe das Ganze irgendwann mit meinen Eltern durchgesprochen und mich danach entschieden, jeden Tag nach Feierabend einfach nach Tianjin zurückzukehren“, erzählt sie. „In der Rushhour sind die Busse in Beijing, die in die Vorstadt fahren, gerammelt voll und ich kann dieses Gedränge wirklich nicht ausstehen“, sagt sie. Noch größeren Ausschlag habe gegeben, dass sie zuvor alleine in Beijing gelebt habe und so auch für sich ganz alleine kochen, waschen und putzen musste. Heute, nachdem sie ihre Tongzhouer Wohnung kurzerhand gekündigt hat, ist das anders. Wang ist wieder mit ihren Eltern zusammengezogen. Der Vater holt sie jeden Tag vom Tianjiner Bahnhof ab. „Der gesamte Weg zwischen meinem Beijinger Büro und der Wohnung meiner Eltern in Tianjin nimmt rund eine Stunde in Anspruch“, sagt die junge Angestellte. Wenn sie zur Tür ihres Elternhauses hereinkommt, hat ihre Mutter bereits ein leckeres Abendessen gezaubert. Die ganze Familie sei glücklich mit der Entscheidung, sagt Wang. „Da ich täglich pendele, erscheint es mir mittlerweile fast so, als ob Beijing und Tianjin eine Stadt wären. Tatsache ist, dass die Fahrt zu meiner Wohnung in der Beijinger Vorstadt unterm Strich sogar mehr Zeit gekostet hat. Aber natürlich frage ich mich auch oft, ob es langfristig gut ist, so auf Kosten meiner Eltern zu leben.“ Fragen, die sich sicherlich auch viele andere junge Pendler in China stellen, die den Schritt zurück zu den Eltern gegangen sind.
China ist heute das Land mit dem längsten Netz an Hochgeschwindigkeitsbahnen weltweit. Der rasche Ausbau der Gaotie hat nicht nur das Reisen im Reich der Mitte erleichtert, sondern auch den Lebensradius der Menschen erweitert. Durch die High-speed-Anbindungen sind die zeitlichen Entfernungen zwischen den Städten in den vergangenen Jahren immer weiter geschrumpft. Zudem forciert Chinas Regierung erfolgreich den Anschluss der Hochgeschwindigkeitszüge an den städtischen Nahverkehr, so wie im Falle der Gaotie zwischen Beijing und Tianjin. Der Beijinger Südbahnhof ist direkt mit den U-Bahnlinien 4 und 14 verbunden. Und auch vom Tianjiner Hauptbahnhof können Passagiere direkt in die U-Bahnlinien 3 und 9 umsteigen. So ist der Schienenverkehr mittlerweile zu einem von vielen Menschen der Region bevorzugten Allwetterverkehrsmittel geworden.
Schnelle und bequeme Alternative
Am 20. September 2015 wurde die neue U-Bahnstation Yujiaopu im Zentrum des neuen Tianjiner Industrieviertels Binhai in Betrieb genommen. Chinas Hochgeschwindigkeitszüge sind gut an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen.
Die Verbindung zwischen Beijing und Tianjin wurde im August 2008 pünktlich zur Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele als erste zwischenstädtische Hochgeschwindigkeitsverbindung Chinas in Betrieb genommen. Die gesamte Strecke betrug damals 115 Kilometer, einen Monat später wurde sie dann um einige Kilometer bis zum neuen Tianjiner Industrieviertel Binhai verlängert. Damit wurde die Verbindung zu einer neuen Lebensader zwischen der Hauptstadt und den Tianjiner Häfen. Auch hat die Bahnverbindung die wirtschaftliche Integration der beiden Großstädte weiter vorangetrieben. In den darauf folgenden Jahren hat sich Chinas Gaotie-Netz für den Personenfernverkehr immer weiter verdichtet. Den Kern bilden heute jeweils vier Hauptstrecken von Nord nach Süd bzw. Ost nach West. Chinas Gaotie-Netz misst heute eine Gesamtlänge von 11.028 Kilometern. Die neuen Hochgeschwindigkeitsverbindungen haben auch die Mobilität der Arbeitskräfte beflügelt. Immer mehr junge Menschen entscheiden sich heute für ein Pendlerdasein.
Herr Guo erinnert sich noch gut an die Zeit ohne Hochgeschwindigkeitsbahn: „Damals, bevor ich nach Beijing versetzt worden war, fuhr ich oft mit einem Interregio nach Beijing. Die Fahrt nahm damals 75 Minuten in Anspruch, was für die damalige Zeit schon nicht schlecht war. Denn zuvor ist nur ein D-Zug zwischen Tianjin und Beijing verkehrt. Die Fahrt dauerte damals noch ganze drei Stunden. Im klirrendkalten Winter und in der Sommerhitze war die Fahrt eine echte Strapaze“, sagt er.
Viele Einwohner Tianjins teilen Guos Einschätzung. So zum Beispiel auch Zhang Limin, die im neuen Wohnviertel Binhai in Tianjin wohnt. Damit sie sich um ihr Enkelkind kümmern kann, verbringt die Rentnerin die meiste Zeit unter der Woche in Beijing. 2001 nahm ihre Tochter ein Hochschulstudium in der Hauptstadt auf und nach dem Abschluss fand sie dort auch eine Anstellung. Nach der Heirat folgte dann schnell das erste Kind. Vor Inbetriebnahme der Gaotie pendelte Zhang Limin in der Regel per Fernbus zwischen Beijing und Tianjin. „Denn die Zugfahrt war damals äußerst unangenehm. Der Zug K215, der von Beijing aus über Tianjin fuhr, hielt fast an jeder Station und war zudem sehr langsam. Auch waren die Waggons immer gerammelt voll und sehr stickig. Wenn man allerdings mit dem Fernbus auf der Autobahn fuhr, hatte man Sicherheitsbedenken. Immer wenn meine Tochter mit dem Bus nach Hause fuhr, machte ich mir stundenlang Sorgen, dass es vielleicht einen Verkehrsunfall geben könnte.“
Heute fährt Zhang am Freitagnachmittag bequem mit der Hochgeschwindigkeitsbahn zurück nach Tianjin, um mit ihrem Mann das Wochenende zu verbringen. Am Sonntagnachmittag geht es dann wieder zurück nach Beijing, damit sie sich in der kommenden Woche um ihr Enkelkind kümmern kann. „Mein Mann und ich führen also auch eine Art Pendlerleben wie die jungen Leute“, scherzt sie.
Am 25. November 2015 lud Chinas Ministerpräsident Li Keqiang im Anschluss an den Fourth Summit of China and Central and Eastern European (CEE) Countries die anwesenden Regierungschefs zu einer Fahrt mit der Hochgeschwindigkeitsbahn von Suzhou nach Shanghai ein. Die Gäste sollten das „chinesische Tempo“ am eigenen Leib erfahren.
Auch in der Region Shanghai wird die Hochgeschwindigkeitsbahn als Verbindung zu vielen umliegenden Städten immer wichtiger und entfaltet zunehmend ihr Potential. Am 25. November 2015 lud Chinas Ministerpräsident Li Keqiang im Anschluss an den Fourth Summit of China and Central and Eastern European (CEE) Countries die anwesenden Regierungschefs der mittel- und osteuropäischen Länder zu einer Fahrt mit der Hochgeschwindigkeitsbahn von Suzhou nach Shanghai ein, damit die Gäste das „chinesische Tempo“ am eigenen Leib erfahren konnten. Für die Entfernung von 100 Kilometern vom Suzhouer Nordbahnhof bis zum Shanghaier Hongqiao-Bahnhof benötigte der Zug nicht einmal eine halbe Stunde.
Soziale Komponente
In den vergangenen vier Jahren hat Herr Guo gute Erfahrungen mit der Hochgeschwindigkeitsbahn gemacht. Nur einmal habe es eine Verspätung gegeben, ein anderes Mal ein Problem mit der Elektrik, sagt er. „Ich bin von daher hochzufrieden mit der Zuverlässigkeit der Gaotie.“ Auch für Dienstreisen bevorzuge er mittlerweile die Hochgeschwindigkeitsbahn gegenüber dem Flugzeug, solange die Fahrt per Zug nicht länger als fünf Stunden in Anspruch nehme.
Um das Bahnfahren noch attraktiver zu machen, hat die China Railway Group zudem eine spezielle Monatsfahrkarte eingeführt. So muss Herr Guo heute keine Einzelfahrkarten mehr lösen. „In der Zeitung habe ich gelesen, dass rund 70.000 Fahrgäste diese Karte nutzen. Mehr als 50.000 Fahrgäste pendeln wie ich rund 165 Mal pro Jahre mit der Hochgeschwindigkeitsbahn von Stadt zu Stadt. Wir sind also heute eine große Gruppe“, sagt der 41-Jährige.
Die China Railway Group hat ihre Monatskartenangebot mittlerweile weiter verbessert. Früher konnte man mit dem Ticket zwar nach Belieben fahren, hatte aber keinen reservierten Sitzplatz. Heute ist dieses Problem gelöst. „Ein anderes Problem ist, dass man die Monatskarte zwar sperren lassen kann, wenn man sie verliert, den Betrag auf der Karte aber nicht zurückbekommt. Ich habe meine Monatskarte schon mal verloren und damit war ein beachtlicher Geldbetrag auf der Karte weg. Heute lade ich deshalb nicht mehr so viel Geld auf meine Karte.“
Der Beijinger Südbahnhof an einem Abend im November 2015: Von hier aus nimmt Guo Xinyu wochentags gegen 18 Uhr die Gaotie nach Tianjin.
Aber das Pendeln hat für Guo durchaus auch eine soziale Komponente. Durch das tägliche Pendeln hat der Familienvater mit der Zeit Mitfahrer kennen gelernt und neue Freundschaften geschlossen. „Ich habe viele Menschen auf der Fahrt getroffen und wir plaudern über Gott und die Welt“, sagt er. Sein Fazit, bevor er in den abendlichen Zug Richtung Tianjin steigt: „Die Gaotie verbindet letztlich nicht nur Städte, sondern auch Menschen.“
(Quelle: China Heute)