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Kommunikation: Erlebnisse und Forschung nutzen, um Vorurteile herauszufordern - Erinnerungen an den deutschen Sinologen Ingo Nentwig

German.xinhuanet.com | 22-03-2016 14:21:15 | Xinhuanet

Von Ban Wei

BERLIN, 22. März (Xinhuanet) -- Er erfuhr und erforschte China sein ganzes Leben lang. Stützend auf seine Kenntnisse über die chinesische Geschichte, Kultur und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, verbreitete er mit seinen Erlebnissen und Forschungen die Gegebenheiten Chinas und schaffte den Menschen im Westen ein objektives und umfassendes Bild über das Reich der Mitte.

Er forderte Vorurteile heraus, besiegte die Krankheit aber nicht. Er ist am 30. Januar 2016 von uns gegangen, und zwar im jungen Alter. Er war der deutsche Ethnologe und Sinologe Ingo Nentwig. Auf Chinesisch nennt er sich Nan Yinguo.

Bruch der Irrmeinung: Kein Recht zur Beurteilung der tibetischen Frage, ohne das Land besucht zu haben

Als sich am 14. März 2008 die Unruhen in Tibet ereigneten, lernte ich als Journalist Herr Ingo Nentwig kennen. In deutschen Medien dominierten negative Berichte über China, er jedoch veröffentlichte auf einer unabhängigen Website für Gelehrte einen wissenschaftlichen Kommentar, in dem er davon ausging, dass die westlichen Medien in Bezug auf die tibetischen Fragen immer Irrtümer verbreiten. Diese rationale Ansicht war unter der damaligen westlichen Lehrmeinungen selten.

Erst beim Interview fand der Journalist heraus, dass es sich bei diesem Gelehrten um einen über 1,90 m großen Mann handelt. Er trug eine schwarze runde Brille im Brechtschem-Stil sowie einen kurzen Bart. Beim Gespräch zeigte er häufig ein neckisches Lächeln. Als das Gespräch besonders belebt war, setzte er unbewusst die Brille ab und steckte die Spitze des Brillenbügels in den Mund. Er wirkte dabei wie ein frecher Jung. Er sprach fließend Chinesisch und erzählte zum Spaß auch einig Wörter im nordostchinesischen Dialekt. Ziemlich beeindruckend waren sein endloser Wissensdrang und sein erstaunliches Gedächtnis. Vor allem als über die Lage der chinesischen Minderheiten gesprochen wurde, war er hinreichend mit der Thematik vertraut.

Nach dem ersten Treffen nahm ich an einer Volksdiskussion in Leipzig, einer Stadt in Ostdeutschland teil, bei dem er als Hauptredner auftrat. Die Teilnehmer waren hauptsächlich die lokalen Bewohner. Laut Planung der Organisatoren, durfte er nur eine halbstündige Rede halten und die restlichen anderthalb Stunden mit den Zuhörern diskutieren. Er beantwortete die Hauptfragen, die die Deutschen interessierten, mit zahllosen nachprüfbaren Fakten.

Als eine deutsche Studentin fragte, ob es in Tibet überhaupt „Genozide“ gebe, antwortete Nentwig mit „überhaupt nicht“. Denn die Familienplanungspolitik für die tibetischen Chinesen, den die chinesische Regierung durchführe, sei viel lockerer als der für die Han-Chinesen. Daher sei das Bevölkerungswachstum der tibetischen Chinesen viel höher als das der Han-Chinesen. Ein sogenanntes „Aussterben der Kultur“ sei auch unmöglich. Ganz im Gegenteil, die tibetische Kultur sei in China am Blühen. Zum Beispiel würden in China so viele tibetische Bücher veröffentlicht, dass die ausländischen Tibetologen schnell die Übersicht verlieren würden. Darüber hinaus dürften die tibetischen Chinesen frei religiöse Veranstaltungen abhalten. Er deutete darauf hin, dass die Mehrheit der Änderungen im tibetischen Alltagsleben eine Folge der Modernisierung war, nicht eine Folge der Assimilation durch die Han-Chinesen.

Der Grund, warum Ingo Nentwig mit Tatsachen die Fragen beantworten konnten, war auf seine Felduntersuchung im Jahr 2002 zurückzuführen. Damals war er zuständig für die Kulturausstellung der ostasiatischen Nationalitäten im Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Die ausgestellte Sammlung war hauptsächlich religiös. Aber Nentwig meinte, dass die tibetische Kultur nicht nur aus religiöser Kultur bestand und kam auf die Idee, mit eigenen Augen in Tibet die Region zu betrachten.

Im Dorf Qiemareba im tibetischen Kreis Nagchu, das 4000 m über dem Meerspiegel liegt, lebte er mehr als eine Woche mit einer achtköpfigen nomadischen Familie aus drei Generationen zusammen. Er unterhielt sich mit den Gastgebern, half ihnen beim Hüten des Viehs und protokollierte die technischen Details für Milchprodukte und die handwerkliche Stickerei.

Abgesehen von der Erkundung des nomadischen Lebens traf sich Nentwig in Lhasa mit Gelehrten der Tibet University, der Tibetan Academy for Social Science, des Museums des Potala Palasts und des Tibet-Museums. Er nahm das traditionelle Arbeitsverfahren auf, als die tibetischen Frauen bei der Renovierung des Daches des Jokhang-Tempels das Arbeitslied „Da A Ga“ sangen, und beobachtete die Lamas im Sera-Tempel, die über die Doktrinen des tibetischen Buddhismus diskutierten….

Nentwig sagte, dass die Leute aus dem Westen kein Recht haben über Tibet zu sprechen, wenn sie das Land noch nicht besucht haben. Um sich ein relativ umfassendes Bild über die Gedanken der lokalen Bewohner zu schaffen, nahm er Kontakt mit Menschen aller Art auf, wie tibetische Beamte, Gelehrte, Lamas, nomadische Bewohner und Fahrer. Durch die abstandlosen Kontakte fand er heraus, dass die tibetischen Völker, genau wie die anderen Nationalitäten, gewöhnliche Leute waren. Einige Ansichten der Menschen des Westens, die basierend auf indirekten Erfahrungen das tibetische Volk vergötterten, waren lächerlich.

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